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Pressestimmen

SWR-Kultur»: Mit offenen Ohren gegen patriarchale Gewalt - Von Autor/in Luisa Klink, Christian Batzlen

„Walking _again in FEAR“: Gewalt gegen Frauen im Stadtraum hörbar machen

Das feministische Theaterkollektiv Silent Ladies feiert mit dem Audiowalk „Walking _again in FEAR“ Premiere.
Mit performativen Elementen thematisiert es dabei die Auseinandersetzung mit geschlechtsbasierter Gewalt im öffentlichen Raum.

„Walking _again in FEAR“: Gewalt gegen Frauen im Stadtraum hörbar machen

Achtung!
Dieser Beitrag thematisiert Gewalt gegen Frauen, sexualisierte Gewalt und Femizide.
Sollten Sie selbst betroffen sein, biette das Hilfetelefon Gewalt gegen Frauen kostenlose Unterstützung: Unter der Telefonnummer 116 016 können sie an 365 Tagen im Jahr und rund um die Uhr eine kostenfreie Hilfe und Unterstützung erhalten – vertraulich, anonym, mehrsprachig und barrierefrei.

Dämmerung, eine Gruppe bewegt sich schweigend durch Stuttgart. Kopfhörer auf den Köpfen, Schritte im Gleichklang, Stadtgeräusche im Ohr. An einer Station sitzen vier Performerinnen dem Publikum gegenüber. Erst mit geschlossenen, dann mit gespreizten Beinen.
Ein späterer Moment zeigt die gleichen Körper mit männlichen Masken. Die Gesten verschieben den Blick: der öffentliche Raum wird zum Erfahrungsraum von Macht, Verletzbarkeit und Widerstand. Die Texte beruhen auf realen Erfahrungen der Performerinnen.

Manspreading: breitbeinig auf der Bank und in der U-Bahn. Eine kleine Geste, die Anderen großen Platz wegnimmt. In Madrid wurde es in öffentlichen Bussen nun verboten.

Hinschauen, benennen, Verantwortung einfordern
„Walking _again in FEAR“ ist ein rund einstündiger Audiowalk mit Live-Performances. Die Besucherinnen und Besucher hören Stimmen, Klänge, Fakten und Erfahrungsberichte und treffen an mehreren Orten auf die Performerinnen.

Das Projekt versteht sich ausdrücklich nicht nur als Kunst, sondern als gesellschaftlicher Appell: hinschauen, benennen, Verantwortung einfordern. Es sind patriarchale Strukturen, die unsere Gesellschaft toxisch werden lassen.
"Wir wollen, dass sich Menschen das reinziehen und reflektieren, die das Privileg haben, sich frei zu bewegen. Nicht Frauen sollen ihren Alltag einschränken. Die Frage muss lauten: Warum passiert das, warum machen Männer sowas?"

Dawn Robinson & Luise Leschik, Organisator*innen

Machtunverhältnisse gefährden das Leben vieler FLINTA-Personen: Frauen, Lesben, Intergeschlechtliche, Nonbinäre sowie Trans und Agender Personen. Laut Veranstalter*innen erlebt alle vier Minuten eine Frau oder weiblich gelesene Person in Deutschland Gewalt durch den (Ex-)Partner.

Audiowalk durch Stuttgart: Teilnehmende begehen öffentliche Orte und erleben die Geschichten dort, wo sie spielen.


Die Gefahr lauert meist im nahen persönlichen Umfeld

Die Performance widerspricht einem gängigen Vorurteil: Gewalt geschieht selten durch den unbekannten Täter im Dunkeln, sondern häufig im Nahfeld durch vertraute Personen. Verharmlosende Begriffe wie „Beziehungstat“ oder „Eifersuchtsdrama“ werden problematisiert, die strukturelle Dimension rückt ins Zentrum.

Beziehungstat, Eifersuchtsdrama, aus Liebe töten… Können wir es nicht als das bezeichnen, was es ist: Femizid, Femizid.
Stimme aus dem Audiowalk


73 Prozent der Betroffenen sind Frauen

Das BKA registrierte im letzten Jahr fast 257.000 Betroffene häuslicher Gewalt, so viele wie nie seit Beginn der Erfassung. Statistisch wird damit etwa alle zwei Minuten ein Mensch Opfer von Gewalt durch Partner*in, Ex-Partner*in oder nahe Angehörige. Rund 73 Prozent der Betroffenen sind Frauen.

Insgesamt stieg häusliche Gewalt in fünf Jahren um fast 14 Prozent. Fachleute rechnen mit einer hohen Dunkelziffer. Femizid ist kein eigener Straftatbestand; Tötungen an Frauen werden meist als Delikte im sozialen Nahraum erfasst.

v.l.n.r.: Luise Leschik (Gründerin des Theaterlabels Silent Ladies) und die Darstellerinnen Martina Gunkel und Mira Sanjana Sharma.

Sicherheitslage im öffentlichen Raum in Baden-Württemberg

Laut dem Magazin für Städte und Gemeinden, einem Organ des Gemeindetags, weist Baden-Württemberg knapp 5.000 Straftaten je 100.000 Einwohner aus. Das ist der zweitniedrigste Wert in 20 Jahren. Die Aufklärungsquote liegt bei 61,2 Prozent und ist gegenüber der vorherigen Erhebungen gestiegen.

20 Teilnehmende trafen sich im Innenhof des lauschigen Hinterhofs, in dem seit über 50 Jahren das Studio Theater Stuttgart beheimatet ist. Es ist der Startpunkt des Audiowalks.

Diese Gesamtkennzahlen stehen den Befunden zu häuslicher und partnerschaftlicher Gewalt gegenüber, die überwiegend im privaten Umfeld stattfindet und oft untererfasst bleibt.

Das Projekt markiert genau diesen Spannungsbogen zwischen objektiv hoher Sicherheit im öffentlichen Raum und Einschränkungen, die viele Frauen dennoch erleben.

Stuttgarter Zeitung 08.09.2025 von Petra Xayaphoum

Feministische Theaterarbeit Stuttgarter Audiowalk thematisiert patriarchale Gewalt an Frauen

Gewalt an Frauen sichtbar zu machen und ihr den Kampf anzusagen, das haben sich die Silent Ladies mit ihrem neuen Stück vorgenommen.

Das Stuttgarter Kollektiv Silent Ladies zeigt mit einem Audiowalk die vielen unsichtbaren Facetten von Gewalt an Frauen. Wie und warum werden Männer gewalttätig gegenüber Frauen?

Dass die Silent Ladies gar nicht so silent sind, wie sie sich nennen, haben Luise Leschik und Dawn P. Robinson, die hinter dem zweiköpfigen Theater-kollektiv aus Stuttgart stecken, schon oft genug bewiesen. Etwa vergangenes Jahr mit ihrem Stück „Nora: Breaking the dollhouse“ oder 2023 mit „I choose… No!“, in denen sie sich am Theaterhaus Stuttgart humoristisch und aus der feministischen Perspektive an den Themen Heirat und Nicht-Mutterschaft abgearbeitet haben. Nun steht ein neues Projekt „Walking again in fear“ in den Startlöchern, und wie zu erwarten, geht’s auch darin nicht um Eat, Pray, Love, sondern um Gewalt an Frauen und weiblich gelesenen Personen. „Wenn man seine feministische Arbeit ernst nimmt in allen Bereichen, dann ist das ein Thema, das unumgänglich ist“, sagt Leschik. „Es ist der Urkern des Patriarchats: die patriarchale Gewalt, die auf allen Ebenen wirkt, im privaten sowie im öffentlichen Raum – und die leider zunimmt.“„Alle vier Minuten erlebt eine Frau in Deutschland Gewalt durch den (Ex-)Partner“

„Walking _again in FEAR“, das am 11. September im Studio Theater Premiere feiert, ist ein Audiowalk, der mit performativen Interventionen gespickt ist und rund 60 bis 65 Minuten dauert.
Ausschlaggebend dafür, sich des Themas anzunehmen, ist für die beiden die zunehmende Gewalt an Frauen und der Umgang mit den steigenden Vorfällen gewesen. So begrüßen sie etwa das neu beschlossene Gewalthilfegesetz, doch es packe das Problem der patriarchalen Gewalt gegen Frauen und weiblich gelesene Personen nicht beim Schopfe. „Es ist ja schön, das unter anderem finanzielle Unterstützung für Frauenhäuser bereitgestellt wird, aber das Problem liegt ja eigentlich woanders“, betont Luise Leschik. Das Gesetz fällt wie auch schützende Gadgets alla Pfeffer- und Schlumpfspray unter die Kategorie Selbstschutz seitens der Frau. Die eigentliche Frage müsste aber sein: „Warum werden Männer gewalttätig? Und: Wie kommen wir dahin, dass es überhaupt nicht nötig wäre, ein solches Gewalthilfegesetz zu verabschieden“, regt Dawn P. Robinson an.

Dawn P. Robinson und Luise Leschik (von links, oben) stecken gemeinsam mit Tontechniker Vincent Wikström und den Darstellerinnen Mira Sanjana Sharma und Martina Gunkel hinter dem Audiowalk „Walking _again in FEAR“. Foto: Petra Xayaphoum

Die Dunkelziffer von Frauen, die geschlechtsspezifische Gewalt erleben, ist groß. Dabei ist vor allem Gewalt, die nicht physisch ausgeübt wird,unsichtbar. „Gewalt wirkt auf so vielen Ebenen, es gibt nicht nur physische Gewalt. Viele Beziehungsmuster, die uns als romantisch verkauft wurden, sind gewaltvoll und wirken auf einer psychischen Ebene“, sagt Robinson. In ihrem Audiowalk, der mit Performances der Theatermacherinnen und zwei weiterer Darstellerinnen, Martina Gunkel und Mira Sanjana Sharma, unterbrochen wird, möchten sie dem Moment der Erkenntnis eine besondere Rolle zukommen lassen. „Psychische Gewalt ist für Betroffene oft schwer greifbar. Den Prozess der Realisierung – was ist mir da eigentlich passiert, welche Formen von Gewalt gibt es – haben wir insbesondere versucht, im Audiowalk zu adressieren.“

Unsichtbare Gewalt an Frauen sichtbar machen

Im Zuge der Recherche für „Walking again in fear“ haben sich die Silent Ladies mit verschiedenen Institutionen ausgetauscht, etwa der Frauenberatungs-stelle Stuttgart. „In Zuge dessen ist uns nochmal deutlich geworden, wie schwer es für Opfer ist, zu sagen ‚Ja, das ist nicht richtig, da muss ich jetzt raus‘, weil die privaten Strukturen so tief greifen“, berichtet Leschik. Stichwort: finanzielle Gewalt. „Wenn eine Frau finanziell und wirtschaftlich abhängig ist in einer Beziehung, ist es ein ganz schwerer Schritt, sich daraus zu entfernen“, klären die Stuttgarterinnen auf. Auch soziale Gewalt wird häufig unterschätzt. „Wenn man sich des Partners wegen schon komplett isoliert und den Kontakt zu Freunden und Familie abgebrochen hat, fragt man sich auch in erster Linie ‚Wo gehe ich dann jetzt hin?‘“Im Audiowalk, der sich rund ums Studio Theater in der Hohenheimer Straße bewegt, wird dabei sowohl Gewalt im öffentlichen als auch im privaten Raum behandelt. „Auch Rassismus ist ein Thema mit dem wir uns auseinandersetzen: Denn wenn es um Femizide geht, in denen der Täter nicht weiß ist, ist die Berichterstattung viel größer als die Berichterstattung bei weißen Tätern. Dabei passiert Gewalt an Frauen in allen Bevölkerungsgruppen und Schichten“, betonen Leschik und Robinson. Für die Geschichten, die im Walk erzählt werden, haben die beiden sozusagen aus ihrem eigenen Repertoire geschöpft. Sie fungieren als Stellvertretergeschichten im Programm, in denen sich wahrscheinlich die meisten weiblichen und weiblich gelesenen Personen im Publikum zu einem gewissen Grad wiederfinden. Außerdem wurden die 2024 vom Projekt „@femizidestoppen“ gesammelten Femizide und Feminizide verarbeitet.

Dass das nicht der heiterste Audiowalk ist und im Gegensatz zu ihren früheren Stücken mit keinem humoristischen Element versehen ist, ist Leschik und Robinson bewusst. Um dem Publikum dennoch die Chance zu geben, aus ihrem Projekt mit einem Empowerment-Moment herauszugehen, haben sie für den 13. September vormittags zusätzlich einen Selbstbehauptungsworkshop für Flinta*, also Frauen, Lesben, Intergeschlechtliche, Nicht-binäre, Trans und Agender Personen, organisiert. Anmelden kann man sich über ein Formular auf ihrer Homepage www.silentladies.de. Tickets für den Audiowalk kann man über die Seite des Studio Theaters erstehen.

Stuttgarter Zeitung 12.09.2025 von Adrienne Braun

Theater zu Femiziden: Die Vergewaltiger sind total nette Kerle

Premiere am Studio Theater:
Das feministische Theaterensemble Silent Ladies hat einen ungewöhnlichen Stadtspaziergang organisiert.


Es ist die große Liebe, Honeymoon in seiner schönsten Form. Dann aber zieht das junge Paar zusammen – und nichts ist mehr, wie es war. Sie streiten und versöhnen sich wieder. Er findet Sex mit ihr plötzlich langweilig.Stattdessen wartet er, bis sie ins Bett geht und vergewaltigt sie dann mitten in der Nacht – „als ich voller Vertrauen neben ihm schlief“, wie die junge Frau bitter konstatiert. Sie beendete die Beziehung mit dem Mann – seine Gewalt wird aber weitergehen – und andere Frauen treffen.
Es ist kein schönes Thema, das die Theatergruppe Silent Ladies aufgegriffen hat für ein ungewöhnliches Projekt, das nun am Stuttgarter Studio Theater Premiere hatte. „Walking _again in FEAR“ nennt sich ein „Audiowalk“, also ein Spaziergang, bei dem das Publikum mit Kopfhörern auf den Ohren durch Stuttgart läuft und zunächst nebenher interessiert auf die vielen Häuser und in die Wohnungen in der Alexander- und Danneckerstraße schaut. Doch zunehmend schleicht sich die Gewissheit ein: Auch hinter diesen Fenstern, in den kleinen Hochhausappartements und in den luxuriösen Altbauten wird es hin und wieder zu Gewalt gegen Frauen kommen.

Von „Beziehungstat“ mag man nichts mehr hören
Die Liste der Fälle, die bei dem Audiowalk immer wieder eingestreut werden, ist lang, sehr lang. Laut Statistik wird jeden Tag eine Frau in Deutschland „aus Liebe“ ermordet. Oft sind es die Expartner, die die „Beziehungstat“ im „ehelichen Bereich“ begehen, wie es dann verharmlosend vermeldet wird. Es seien Männer, die die Trennung nicht verkraftet hätten, sagt eine Stimme durch den Kopfhörer und stellt die vermutlich wichtigste Frage in diesem Kontext: „Wie fragil ist diese Männlichkeit eigentlich, dass sie beim kleinsten Widerwort schon abgehen?“
Doch es geht nicht um die offenbar brüchige Identität mancher Männer bei diesem einstündigen Rundgang, sondern um das, was zwar irgendwie bekannt ist, aber trotzdem nicht ernsthaft angegangen wird: Strukturelle Gewalt gegen Frauen. Gerichte wie auch Polizisten, die oft unsensibel und nicht geschult seien, würden nach wie vor „patriarchale Mythen“ stützen, heißt es. Meist herrsche auch eher Solidarität mit den Männern, während die Opfer in der Beweis-pflicht sind. Frauen, die Gewalt und Übergriffe anzeigen, würden dagegen schnell als nicht zurechnungsfähig dargestellt, Mütter als überfordert erklärt.

Warum gibt es keine „Opfervermutung“?
Das wandelnde Publikum macht immer wieder Halt auf Plätzen oder in Grünanlagen, wo vier Darstellerinnen wortlos die körperliche Gewalt gestisch über-setzen. Zwei von ihnen, Luise Leschik und Dawn Patricia Robinson haben den Audiowalk auch konzipiert. In ihren knappen lila Höschen und den Turnschuhen könnten die beiden, Martina Gunkel und Mira Sanjana Sharma selbst Opfer werden in dem Park neben dem Spielplatz.
Immer wieder klingen Fragen an: Warum gilt für Täter die Unschuldsvermutung, aber gibt es keine „Opfervermutung“? Und was wäre, wenn Frauen militant würden und Männern Angst machten? „Die Scham muss die Seite wechseln“, heißt es. Und: „Wer sich nicht aktiv gegen diese Kultur einsetzt, wird zum Teil dieses Problems.“ So aber bleibt die junge Frau allein zurück, die auf einer Party zu viel getrunken hat und am nächsten Morgen in ihrem blutigen Bett aufwacht. Der vermeintliche Freund hat ihren Zustand ausgenutzt. Ist sie jetzt daran schuld?

Im Park wird es bedrohlich
Im Park stellen sich die vier Darstellerinnen den Zuschauern in den Weg. Sie haben jetzt Masken übergezogen und schauen aus wie Männer, die einem hier in der Sicherheit der Dämmerung alles antun könnten. Und plötzlich schleicht sich Angst ein. Vor allem schaut man Männer mit anderen Augen an und stellt jeden, der einem auf dem Rückweg begegnet, unter Generalverdacht, schließlich könnten sie alle vergewaltigen. Denn wie hieß es einmal? Oft seien die Täter Männer, „die eigentlich total nette Kerle sind.“

Vorstellungen am 25., 28. und 29. November 2025

Kulturreport, 27. Mai 2025

Unheilvoller Zauber

(von Gabliele Metsker)
Thomas Manns „Mario und der Zauberer“ auf der Bühne
Ein tragisches Reiseerlebnis
Foto Stephan Haase

Schon bevor Sebastian Schäfer in der Rolle als Familienvater Thomas Mann auf die Bühne kommt, spürt man, dass Unheil in der Luft liegt. Dabei sehen die nach hinten gestaffelten, naturfarbenen Vorhänge eigentlich ganz behaglich aus. Auch das Licht ist angenehm. Aber schon die ersten Sätze ziehen einen mitten hinein ins Geschehen: ins italienische Küstenstädtchen Torre de Venere, wo Thomas Mann mit Frau Katia und den Kindern den Sommerurlaub verbringt. Der Traum von „Bella Italia“ gerät jedoch nach und nach zum Alptraum. "Mario und der Zauberer“ heißt die Novelle von Thomas Mann, die Daniela Urban für die Bühne bearbeitet und im Studio Theater inszeniert hat. Der Geschichte liegen reale Erlebnisse zugrunde: Sie spielt in den 1920er Jahren, als in Italien der Faschismus heraufzieht. Italien, das ist hier nicht das unbeschwerte Land, in dem die Zitronen blühen. Es ist eine Nation, die Nicht-Italienern schnell feindselig gegenübersteht, was sich in Torre de Venere in verschiedenen Schikanen äußert, welche die Familie Mann erdulden muss. Der Aufenthalt gipfelt in einer ebenso faszinierenden wie schaurigen Zaubershow mit dramatischem Ausgang. Nur drei Darsteller (Sebastian Schäfer als Thomas Mann, Joachim Hall als Cavaliere Cipolla und Felix Jeiter als Mario und in weiteren Rollen) und eine Darstellerin (Galina Freund als Katia Mann und in weiteren Rollen) sorgen für das italienische Ambiente und die Vergegenwärtigung der verschiedenen Örtlichkeiten und Personen (Ausstattung Leah Lichtwitz). Das gelingt auf poetische Weise, indem die Vorhänge so verändert und drapiert werden, dass sie zur Hotellobby, zum Straßencafé, Strandplatz oder zur Theaterbühne werden. Eine wichtige Rolle spielen dabei behutsam eingespielte oder selbst produzierte Geräusche sowie die Kunst des Schattenspiels. Da genügen dann nur ein oder zwei ausgewählte Accessoires, um die unterschiedlichen Personen oder Orte zu charakterisieren. Dass an vielen Stellen – vor allem von Felix Jeiter – im Original- Tonfall Italienisch gesprochen wird, trägt ebenfalls zur dichten Atmosphäre bei.
Gibt es anfangs immer wieder charmante Erlebnisse, welche die Familie trotz aller Unannehmlichkeiten zum Bleiben verleiten, gipfelt, was sich anfangs nur als unbestimmtes Unbehagen bemerkbar macht, in der unheimlichen Vorstellung des Hypnotiseurs Cipolla. Mit Unverschämtheit und Menschenverachtung gewinnt er die Aufmerksamkeit des Publikums, das sich ihm zunehmend bereitwillig unterwirft. Sich seinem Willen widersetzen wollen? Darüber kann der gruselige Maestro nur lachen. Und während die Kinder in ihrer Unschuld nicht wirklich durchschauen, was vor sich geht, verstehen die Erwachsenen nicht, warum sie all dem bis zum bitteren Ende beiwohnen. gab

Stuttgarter Zeitung, 23. Mai 2025

Die Macht des Magiers

(von Tim Schleider)
Das Stuttgarter Studio Theater bringt Thomas Manns Erzählung „Mario und der Zauberer“ auf die Bühne – es ist ja leider so aktuell wie lang nicht mehr.

Foto: Stephan Haase

Vor 150 Jahren wurde Thomas Mann geboren: Es ist bemerkenswert, vor allem aber bezeichnend für unsere aktuelle Lage, wie stark sich das Interesse im Jubiläumsjahr gerade auf die politische Haltung und Botschaft des Dichters konzentriert – auf den Verteidiger der Weimarer Republik in den 1920er-Jahren, auf den Exilanten in der Nazi-Zeit, der versucht, vom Ausland aus den Deutschen ins Gewissen zu reden. Jahrzehntelang galt Thomas Mann im Kontrast zu seinem Bruder Heinrich noch als der schöngeistige, verwagnerte Ästhet, der Homo Unpoliticus, der eher zufällig im Ausland landete. Diese Deutung war schon immer Unsinn; inzwischen liest man seine Romane, Briefe, seine Essays und Reden aus den 20er- und 30er-Jahren zum Glück genauer und weniger politisch voreingenommen.

Das passt zum Haus

Staunen kann man zum Beispiel immer nur aufs Neue über die Klarheit der Analyse, die Qualität der künstlerischen Verdichtung und die Bestimmtheit der politischen Aussage in seiner Novelle „Mario und der Zauberer“, 1930 veröffentlicht im Rückblick auf einen Sommerurlaub 1926 im damals ja bereits faschistisch regierten Italien. Es passt perfekt zur engagierten Haltung des Stuttgarter Studio Theaters, diese Geschichte auf ihre kleine, feine Bühne zu bringen – in einer natürlich eingedampften Textfassung der Ko-Intendantin Daniele Urban, die auch die Regie übernommen hat.

Sebastian Schäfer und Galina Freund als Thomas und Katia Mann berichten also von ihren beunruhigenden Erlebnissen im Hotel und am Strand, wo sie sich im Kleinen des Ferienalltags plötzlich den Auswirkungen nationalistischer Xenophobie im Großen der Politik ausgesetzt sehen. Und sie besuchen gemeinsam mit Felix Jeiter als Kellner Mario die Spätvorstellung des Zauberers Cipolla, dessen magische Qualitäten vor allem in perfider Suggestion bestehen: Was, so seine zentrale Frage, sei denn schon das kleine armselige persönliche Wollen angesichts der Kraft und Macht des Befehls?

Achim Hall hat als Cipolla einen starken Auftritt, kommt er doch im Gegensatz zu den hellen Tönen der sonstigen Kostüme und des Bühnenbilds (Leah Lichtwitz) ganz im italienischen Faschisten-Schwarz. Großartig gespielt ist die zentrale Szene der Hypnose, in der er Mario dazu bringt, in ihm, dem Verführer, die lang ersehnte Freundin zu sehen.

Insgesamt ist der gut einstündige Abend aber eher eckig als rund geraten. Die Übergänge zwischen den Szenen schleifen, vor allem fremdeln die Spieler immer mal wieder mit der gerade in dieser Novelle so bewusst distinguiert gehaltenen Sprache Manns; vieles wirkt da eher aufgesagt als authentisch berichtet. Die Botschaft sitzt aber in jedem Fall, der Gewinn für den Zuschauer ist klar, der Beifall darum herzlich.

Stuttgarter Zeitung, 16. März 2025

Loblied auf die kleine Kneipe

(von Thomas Morawitzky)

Die Kneipe als Kulturgut: Oliver Köhler und Christopher Wittkopp Foto: Benjamin Wendel.

Oliver Köhler und Christopher Wittkopp feiern im Studio-Theater in Stuttgart die untergegangene Kultur der kleinen Kneipen und Spelunken – und vor allem einen speziellen Leckerbissen.

Da stehen sie, in Uniformen der Heilsarmee, und loben das Ei. Genauer: das Solei. Was ein Solei ist und wie es hergestellt wird, das erfährt das Publikum im Studio Theater, beim Kneipen-Theater-Abend „Von Thekenperlen und anderen Leckerbissen“, der nun Premiere feierte. Oliver Köhler und Christopher Wittkopp haben diesen ungemein skurrilen Abend zusammengestellt als eine Hommage an eine untergegangene Kultur – die der kleinen Kneipen und Spelunken, in denen sich einst alle Welt traf, ob nun Chefarzt oder Bauarbeiter, um dort ein frühes oder spätes Bier zu schlürfen.
Das Solei, nach Rezept von Oma Gerda, war ein wichtiger Bestandteil dieser Welt, durfte nicht fehlen im Hungerturm, der mehrstöckigen Vitrine, die, vornehmlich im Ruhrpott oder in Berlin, auf den Theken stand und Nahrungsmittel für Kneipengänger bereithielt. Gesetze, die den Verkauf von Speisen reglementieren, machten der Kneipenkultur den Garaus, so die These.
Pils-Gerd und Malteser-Olsen

Oliver Köhler und Christopher Wittkopp begegneten sich zuerst im Studio-Theater, wirken mit beim Kinderstück „Momo“. Ihr Kneipenprogramm entwickelten sie in den Wagenhallen, präsentierten es dort zuerst. Nadine Klante, Co-Intendantin am Studio- Theater, sorgte für die szenische Einrichtung – und nun entfaltet sich ebendort die seltsam schöne Welt, die Wittkopp als Texter, Köhler als Puppenspieler und Bastler kreierten. Beide treten auf als Pils-Gerd und Malteser-Olsen, einzige Mitglieder des Vereins zur Erhaltung des Soleis als Kulturgut. Sie sitzen beisammen, halten ihre Jahreshauptversammlung ab, gedenken ihrer verstorbenen Mitglieder, zitieren Borchert, Mörike, Erich Fried und Heinz Ehrhard, tauchen ein in ein Milieu, wie gezeichnet von Heinrich Zille, stimmen „Bella Ciao“ an oder einen Hit von Matthias Reim, lauschen dem Ave Maria oder der Berliner Kneipen-Chanteuse Claire Waldoff, die knisternd singt „Wer schmeißt denn da mit Lehm“.
Launige Dialoge und Improvisationen

Sie philosophieren, erzählen, lassen Originale auftreten. Sie blicken, mit Puppenspiel, Rezitation, launigen Dialogen und Improvisationen in schummrige Ecken, in denen Menschen sich begegneten und das Leben weiterging. Sie möchten ihr Programm künftig nicht nur am Theater spielen, sondern auch an echten „Unorten“, Kneipen beispielsweise. Zuletzt blasen sie gemächlich ein riesenhaftes Ei auf und verabschieden sich, ganz beiläufig.

Stuttgarter Zeitung, 22. Februar 2025

Wenn die Familie zur Hölle wird

(von Cord Beintmann)
Das Drama „Das wirkliche Leben“ nimmt die Zuschauer im Studio Theater mit in eine düstere Welt, aus der die Tochter Adeline unbedingt ausbrechen will.
Wenn die Familie zur Hölle wird

Die Familie sitzt im „Raum der Kadaver“, wie ihn die Tochter nennt, denn die Wände sind mit Tiertrophäen bestückt. Der Vater liebt die Jagd, Fernsehen und Whisky, und am Esstisch schlägt der eisige Familientyrann die Mutter, weil ihm das Essen nicht schmeckt.

In dieser Szene ballt sich die unheilvolle Struktur einer von einem patriarchalischen Autokraten beherrschten Kleinfamilie zusammen, in der die Mutter alle Schrecken stumm erduldet. Adeline, am Tisch noch ein Kind, erzählt davon wie eine Erwachsene aus der Rückschau, in einer kühlen, sarkastischen Sprache von erschreckender Unverblümtheit. Für ihre Mutter empfinde sie nur Mitleid, ja sogar Verachtung. „Das wirkliche Leben“ heißt das Stück nach dem gleichnamigen preisgekrönten Roman der Belgierin Adeline Dieudonné aus dem Jahre 2018.

Für das Studio Theater haben Yassin Trabelsi und Daniela Urban eine überzeugende Bühnenfassung erarbeitet.

Hilft nur eine Zeitmaschine?

Zu erleben ist ein Coming-of-Age-Stück der knochentrockenen und gruseligen Art. Adeline möchte ihren kleinen Bruder (Robin Kümmel) schützen und glaubt, eine Zeitmaschine könne die beiden in ein Leben fern von den gruseligen Eltern katapultieren. Das kann nicht klappen, und Adeline muss zuschauen, wie ihr Bruder später zu einem abstoßenden Tiertöter wird. Sie selbst aber durchschaut erstaunlich klar ihre Situation und erkennt, dass sie sich aus dieser Familie herauskämpfen muss. Sie schafft es, dem Vater die Erlaubnis abzuringen, dass ihr ein Professor privat Physikunterricht gibt. „In mir wächst etwas Mächtiges heran“, erklärt Adeline gegen Ende des Stücks.

Insgesamt kommt ihr Aufbruch in ein selbstbestimmtes Leben im Stück etwas zu kurz. Doch der Abend, den Yassin Trabelsi ideenreich und auch amüsant inszeniert hat, bietet auf einer kleinen Bühne Theater, wie es sein sollte: Szenen, die zu denken geben, und ein sinnliches Erlebnis. Corentin Muller hat aus schlichter Pappe einen einleuchtenden Bühnenraum gebaut. Auf ihm entfalten sich atmosphärisch dichte Szenen mit einer sorgfältigen Lichtregie und aufregender Musik (Sven Daniel Bühler), die das Geschehen raffiniert unterfüttert. Bisweilen ist es vollständig dunkel, und man sitzt als Zuschauer ziemlich irritiert in seinem Stuhl. Gut so.

Die versteinerte Mutter

Überhaupt ist diese Inszenierung spannend, sie nimmt den Zuschauer mit, konfrontiert ihn ständig mit Unvorhersehbarem. Sabine Christiane Dotzer verkörpert die versteinerte Mutter glaubhaft und ist amüsant als russisch akzentuierende Gattin des „Champions“. Sebastian Schäfer gibt ihn witzig als angejahrten Eigenheimsiedlungs-Kavalier, den die jugendliche Adeline erstaunlicherweise supersexy findet. Leonore Magdalena Lang trägt das Stück als erzählende Adeline zwei Stunden lang mit großer Bühnenpräsenz. Souverän stößt sie direkte, erbarmungslose Sätze aus, die erschrecken und berühren.

Termine „Das wirkliche Leben“ im Studio Theater, am 22. sowie vom 26. bis 28. Februar & März 2025

Studio Theater Stuttgart e.V.
Hohenheimer Straße 44
70184 Stuttgart

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